Montag, 22. August 2022

EM 2012 – eine kollektive Fete

Public Viewing ist Party. Archivbild WM 2010.

Rhein-Neckar, 25. Juni 2012. In knapp einer Woche ist der ganze Zauber wieder vorbei. Nächsten Sonntag steht der Europameister 2012 fest und man kann die Abende wieder anders verplanen. Gabi ist darüber ganz froh, denn sie ist kein Fußballfan. Dennoch geht sie zu Public Viewings.

Ich hab’s nicht mit Fußball. So, jetzt ist es raus, jetzt habe ich es gesagt.

Vor dem Sommermärchen, der WM 2006 in Deutschland, konnte man dies auch noch ungestraft sagen. Bis dahin gab es die Fußball-Begeisterten und die anderen.

Doch mit diesem Sommer änderte sich alles. Mit Public Viewing wurde die WM 2006 zu einem nationalen Event.

Deutschlandfahnen, in meiner Jugend noch verpönt, wehen nun in den Zeiten von Welt- und Europameisterschaften von Balkonen, aus Fenstern und von Autodächern.

Das perfekte Styling muss sein

Eine ganze Industrie entstand, die für das richtige Equipment sorgte. Ketten, Schweißbänder, Schminke, Vuvuzelas, Überzieher für die Autoaußenspiegel und Fahnen in jeglicher Größe, alles in schwarz-rot-gold, gibt es an jeder Straßenecke zu kaufen.

Dieser Tage habe ich sogar einen alten Mann mit einem mit Fahnen geschmückten Rollator gesehen.

Was früher den wahren Fan ausmachte wurde quasi über einen Sommer zum Allgemeingut.

Wenn ich sage, ich schaue kein Fußball, heißt es nicht, dass ich mir nicht das eine oder andere Spiel angucke, aber es bedeutet, ich plane in dieser Zeit meinen Alltag nicht um dieses Ereignis. Und ich empfinde es äußerst lästig, wenn auf die Frage, „kommt ihr zum Grillen“, die Antwort „stellt ihr auch einen Fernsehen auf“ folgt.

Ich freue mich, wenn die deutsche Mannschaft nach einem guten Spiel weiter kommt, aber ich stürze nicht in eine Existenzkrise, wenn sie ausscheidet.

Gott sei Dank ist auch mein Mann kein Fußballfanatiker. Er schaut nie die Sportschau und hat auch keinen Lieblingsverein in der Bundesliga. Aber natürlich schaut er WM- und EM-Spiele – wenn es zeitlich passt.

Ich bin zwar Mutter eines Sohnes, blieb aber von Fußballverein und dementsprechenden Spielen am Wochenende verschont.

Wahre Fans und Party-Mitläufer

Anders geht es da einer guten Freundin. Alle zwei Jahre ist sie komplett verzweifelt, denn ihr Angetrauter und ihre beiden Söhne  gucken jedes Spiel von der Vorrunde an.

Vier Wochen lang ist mit ihren Männer komplett nichts anderes anzufangen.

Aber ihr Göttergatte war schon immer Fußball begeistert, nicht erst seit die große Meisterwelle die Nation überschwappt hat.

Das ist ehrlich und authentisch. Vielen anderen geht es nur um die Party.

Am vergangenen Freitag war ich zufällig in Mannheim und habe ganze Gruppen von Jugendlichen in perfektem EM-Styling zum Friedrichspark pilgern sehen.

Das hätte auch ein Rock-Konzert sein können, dachte ich mir. Es geht um das Event als solches und weniger um den Inhalt. Und das schöne daran ist, das ganze Land und besser noch, ganz Europa feiert mit.

Wenn ich morgens mit dem Auto zur Arbeit fahre, gibt es jetzt bei SWR3 regelmäßig einen kurzen Talk mit „dem EM-Hasser“. Er outet sich ganz freimütig und mimt damit den Außenseiter. Glaubwürdig oder auch nicht, eines wird klar, entzieht man sich dem nationalen Hype, gerät man ins Abseits.

Und auch ich gehe gerne auf Public Viewings, das macht Spaß, das ist spannend, das ist Party. Hat aber mit Fußball selbst, recht wenig zu tun.

Und wichtig ist: Bleibt die deutsche Mannschaft drin, geht die Party weiter.

gabi

Kritischer Blick auf die Vaterlandsliebe in Zeiten der EM

Sind Sie noch Patriot? Oder schon Nationalist?

Stolz auf die Fahne? Aufs Vaterland? Patriot? Oder schon Nationalist?

 

Rhein-Neckar, 20. Juni 2012. (red/pro) Fiebern Sie mit der deutschen Nationalelf mit? Reden Sie von Deutschland, Spanien, England, Italien und den anderen LĂ€ndern als seien dort alle gleich? Verbinden Sie mit „die Italiener“, „die Griechen“, „die…“ irgendwelche „Charaktereigenschaften“? Erhöhen Sie Deutschland oder Ihre eigene Nation gegenĂŒber gegenĂŒber anderen LĂ€ndern? Dann wird es Zeit, darĂŒber nachzudenken, ob Sie noch ein Patriot oder schon ein Nationalist sind. Und ob „Demokrat“ nicht eine brauchbare Alternative wĂ€re.

Von Hardy Prothmann

Im Gegensatz zu den Tageszeitungen finden Sie bei uns immer wieder Hinweise auf andere Medien – manchmal, weil diese sehr gut berichten oder sehr schlecht, manchmal, weil sie etwas berichten, was wir fĂŒr unsere Leserschaft interessant finden.

Heute empfehlen wir Ihnen ausdrĂŒcklich ein sehr interessantes StĂŒck von Nikolas Westerhoff in der SĂŒddeutschen Zeitung: „Weltoffene Demokraten – eine aussterbende Spezies„. Es liest sich, als wĂ€re der Text aktuell zur EM und dem damit verbundenen „Nationalstolz“ geschrieben. Der Artikel erschien aber schon vor fĂŒnf Jahren – ist aber vermutlich zeitlos.

Patriot vs. Nationalist?

In einer umfangreichen Darstellung stellt der Kollege wissenschaftliche Untersuchungen vor, die den vermeintlich positiven Begriff des „Patrioten“ in Frage stellen. Vielmehr deuten die Untersuchungen darauf hin, dass eine Unterscheidung in den guten Patrioten versus dem schlechten Nationalisten nicht möglich ist:

Doch eine solche Zweiteilung der Menschen in Patrioten und Nationalisten ist politisch motiviert – sie dient dazu, Patriotismus als wĂŒnschenswerte Eigenschaft propagieren zu können. Eine empirische Basis fĂŒr den Unterschied zwischen Vorzeige- und SchmuddelbĂŒrgern gibt es jedoch nicht, wie neueste Untersuchungen zeigen (Wilhelm Heitmeyer: Deutsche ZustĂ€nde, Folge 5. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2007).

Ab- und Ausgrenzung liegen wohl tief im Menschen verankert und politische Haltungen werden durch Vorbilder, Erziehung un d Wissen vermittelt. Positiv wie negativ.

Stolz ein was auch immer zu sein?

In Zeiten des Nationalstolzes, die besonders deutlich bei Europa- oder Weltmeisterschaften populĂ€rer Sportarten wie Fußball auftreten, sollte man sich selbst mal prĂŒfen. FĂŒhlt man sich als Deutscher, Italiener, Spanier, TĂŒrke als „mehr wert“ gegenĂŒber anderen Nationen? Ist man besonders stolz aufs eigene Land? Warum? Auf was? Was hat man davon? Was nĂŒtzt es, den eigenen Staat zu ĂŒberhöhen? Gibt es einen Status quo oder ist alles im Fluß?

Auf dem Weinheimblog hatten wir vor kurzem ĂŒber schlagende Verbindungen berichtet, die Corps, die sich einmal im Jahr in Weinheim treffen und sich als „Patrioten“ bezeichnen und ihre Vaterlandsliebe sehr hoch halten. Sie grenzen sich gleichzeitig vordergrĂŒndig von Nationalisten ab. Können Sie das tatsĂ€chlich angesichts der vielen wissenschaftlichen Studien oder lĂŒgen sie sich was in die Tasche.

Ich zum Beispiel wĂŒrde nie sagen, dass ich stolz bin, ein Deutscher zu sein. Ich bin stolz auf meine eigene Leistung und achte die anderer – egal welcher Nation. Und ich drĂŒcke mein Missfallen aus, wenn ich mit etwas nicht einverstanden bin. Egal ob im eigenen Land oder im Ausland. Egal ob gegenĂŒber Deutschen oder AuslĂ€ndern.

TatsĂ€chlich bin ich sehr froh, in diesem Land zu leben. Denn Deutschland ist eine stabile und wehrhafte Demokratie und durch die gelebte Ordnung ein Land, in dem man ĂŒberwiegend sicher leben, Chancen verwirklichen kann und in dem vor allem eines möglich ist: Eine eigene Meinung zu haben.

Andere LĂ€nder – andere Vorbilder

Ich habe viele LĂ€nder bereits, deren VorzĂŒge, aber auch Nachteile kennengelernt. Deswegen bin ich ingesamt sehr zufrieden mit meinem Heimatland – obwohl es immer wieder Dinge gibt, die man Ă€ndern, verbessern oder abschaffen oder neu schaffen muss.

Wenn mich im Ausland jemand fragt, wo ich herkomme, sage ich „Pfalz“. Denn das ist meine unmittelbare Heimt. Dann sage ich Deutschland. Und manchmal erzĂ€hle ich, dass ich ein „Exil-Ossi“ bin. Meine Eltern stammen aus Rostock und Dresden, ich bin in Ludwigshafen geboren und in der Pfalz aufgewachsen. Heute lebe ich in Nordbaden.

Ich fĂŒhle mich als Deutscher nicht durch Fußballer vertreten. Es krĂ€nkt nicht mehr Ehre, wenn die deutsche Mannschaft verliert oder schlecht spielt. Es hat keinen Einfluss auf meine Meinung oder meine demokratische Überzeugung gar mein Selbstbewusstsein. Bislang spielt die deutsche Elf gut und ich verfolge gespannt jedes Spiel, weil es mich „unterhĂ€lt“.

Und großen Respekt zolle ich der spanischen Mannschaft, die insgesamt sehr stark spielt und vor allem sehr fair – ich wĂ€re froh, wenn sich andere daran orientieren wĂŒrden. Denn das verdient Respekt.